„Nun ist es Zeit für mich zu gehen“, flüstert das alte Jahr und blickt mit einem zärtlichen, müden Lächeln in das unschuldige Gesicht des neuen Jahres. Der Himmel über ihnen ist still, die Welt hält für einen Moment den Atem an, bevor der Himmel in einem Lichtermeer erstrahlt.
„Ich weiß“, fährt das alte Jahr fort, „ich übergebe dir eine schwere Last und deine Zeit ist bemessen. Viel wird von dir erwartet. Hoffnung, Heilung, Glück. Die Menschen werden dich feiern – und sie werden dich verfluchen.“
Das neue Jahr schaut fragend, beinahe erschrocken. „Aber ich bin doch nur eine Zahl“, sagt es leise.
„Genau das bist du“, antwortet das alte Jahr. „Eine Zahl, ein Kalenderblatt. Und doch werden sie dir alles zuschreiben. Sie werden sagen: ‚Das war ein schlimmes Jahr‘ oder ‚Das war mein schönstes Jahr‘. Sie werden dich verantwortlich machen für das, was ihnen widerfährt – für Verluste, für Liebe, für Wandel.“
„Aber ich entscheide doch nichts“, sagt das neue Jahr. „Ich bringe keine Kriege, ich schenke keine Umarmungen.“
„Nein“, sagt das alte Jahr. „Du bist unschuldig geboren. Du trägst keine Schuld. Die Kriege führen die Menschen. Die Umarmungen schenken sie sich selbst. Du bist nur die Bühne, auf der sie ihr Leben spielen.“
„Und doch“, fährt das alte Jahr fort, „wirst du manchmal Zeichen setzen. Naturkatastrophen, die kommen und gehen, gehören zu deinem Lauf. Du wirst die Menschen erschüttern, nicht aus Bosheit, sondern weil die Erde lebt. Und manchmal wirst du sie zum Nachdenken bringen – über sich selbst, über ihr Miteinander, über das, was wirklich zählt.“
Das neue Jahr nickt langsam. Es beginnt zu verstehen.
„Du wirst Licht und Schatten tragen“, sagt das alte Jahr. „Aber du bist nicht das Übel. Die Menschen entscheiden, was sie in dir sehen. Sie füllen dich mit Taten, mit Worten, mit Träumen. Du bist nur eine Zahl – und doch wirst du für viele alles bedeuten.“
Ein letzter Windhauch streicht über die Landschaft. Das alte Jahr lächelt, ein wenig wehmütig, aber voller Vertrauen.
„Geh nun“, sagt es. „Und sei einfach da. Die Menschen werden dich formen. Und vielleicht – nur vielleicht – werden sie in dir erkennen, dass es nicht die Zahl ist, die zählt, sondern das, was sie daraus machen.
„Und vergiss nicht“, sagt das alte Jahr leise, „du hast nur eine begrenzte Zeit. 365 Tage, nicht mehr. Du wirst wachsen, reifen, und dann wirst du gehen – so wie ich jetzt. Was geschieht, liegt in den Händen der Menschen, du, bist nur eine Zahl.“





