Karin war dieses Weihnachten allein. Ihr Leben hatte sich von einem Tag auf den anderen verändert. Sie hatte erfahren, dass ihr Mann seit geraumer Zeit eine Freundin hatte. Als sie ihn zur Rede stellte, antwortete er nüchtern: Gut, dass du es nun weißt. Aber mit uns beiden, das war doch schon lange nichts mehr. Ich empfinde nichts mehr für dich.
Für Karin fühlte es sich wie ein böser Traum an, aus dem sie nur aufwachen musste, damit alles wieder gut würde. Doch sie wachte nicht auf. Ihr Mann stand vor ihr, erleichtert, dass die Wahrheit endlich ausgesprochen war. Und so war Karin nach fünfzig Ehejahren plötzlich allein. Die Kinder waren längst außer Haus, ihr gemeinsames Leben Vergangenheit.
Natürlich hatte sie Freunde. Sie traf sich oft mit ihnen, sie hörten ihr zu, sie waren für sie da. Doch an den stillen Abenden, wenn die Wohnung leer war, oder am Morgen, wenn sie die Augen öffnete – da war niemand. Karin war eine Frau, die gern lachte. Sie verbarg ihre wahren Gefühle geschickt. Nur wenn sie allein war, ließ sie die Traurigkeit zu.
An diesem Tag war es ein wunderschöner Wintermorgen. Die Sonne stand klar am blauen Himmel, der Schnee glitzerte wie kleine Diamanten, und an den Ästen der Bäume hingen lange Eiszapfen. Es war kalt. Karin schlüpfte in ihren warmen Mantel, setzte die Mütze auf und zog ihre Handschuhe über und machte sich auf den Weg in den nahegelegenen Wald.
Wie oft war sie hier mit ihrem Mann und den Kindern unterwegs gewesen. Sie hatten nach Rehen und Hasen Ausschau gehalten, hatten gelacht und sich an Kleinigkeiten erfreut. Bei diesen Erinnerungen musste sie lächeln. Ja, sie hatte schöne Jahre gehabt – und vielleicht schmerzte die Einsamkeit gerade deshalb so sehr.
Tief in Gedanken versunken, ging sie immer weiter, bis sie plötzlich stehen blieb. Sie sah sich um. Oh, sagte sie leise, ich habe mich verlaufen. Hier war ich noch nie. Da entdeckte sie eine Frau, die mühsam Holz sammelte. Die Last war schwer, ihre Bewegungen langsam. Karin ging auf sie zu. „Kommen Sie“, sagte sie freundlich, „ich helfe Ihnen. Wohin wollen Sie?“ Die Frau sah auf. „Ich bin wohl selbst vom Weg abgekommen“, antwortete sie. „Jetzt muss ich erst überlegen.“
Karin lächelte. „Auch ich habe den Weg verloren. Aber gemeinsam finden wir ihn bestimmt wieder.“
Schweigend gingen sie ein Stück nebeneinanderher. Jede war in ihre eigenen Gedanken vertieft. Schließlich brach die andere Frau das Schweigen. „Warum sind Sie allein so tief im Wald?“
Karin zögerte. Sollte sie einer Fremden ihr Leid anvertrauen? Doch diese Frau strahlte etwas Ruhiges, Besonderes aus. Also begann Karin zu erzählen. Die andere hörte aufmerksam zu, nickte hin und wieder. Als Karin geendet hatte, fühlte sie sich leichter.
„Und du?“, fragte Karin schließlich. „Warum bist du hier, so weit weg vom Weg?“
Die Frau sah sie an. In ihrem Blick lag etwas, das Karin nicht deuten konnte – eine Mischung aus Schmerz, Frieden und einer Tiefe, die nicht ganz menschlich wirkte. Dann begann sie zu erzählen. Auch sie war allein. Doch ihre Geschichte war von einer Tiefe, die Karin den Atem nahm. Bei einem Autounfall hatte sie ihren Mann und ihre beiden Kinder verloren. Damals war nicht nur ihre Familie gestorben – ein Teil von ihr selbst war es ebenfalls.
Sie hatte keinen Sinn mehr im Leben gesehen und beschlossen, sich in ein kleines Häuschen am Waldrand zurückzuziehen – dorthin, wo die Stimmen der Menschen leiser wurden und nur noch das Wesentliche blieb. Ohne Luxus, ohne Menschen, ohne das allgegenwärtige Mitgefühl, das ihr nichts mehr geben konnte. Niemand konnte ihr helfen, niemand konnte ihr ihre Familie wieder zurück bringen. Also lebte sie nun allein, in und mit der Natur.
Karins eigenes Schicksal erschien ihr plötzlich klein. Ihre Kinder lebten. Selbst ihr Mann lebte – auch wenn sie ihm in dunklen Momenten den Tod gewünscht hatte.
Schweigend gingen sie weiter, bis das Häuschen der Frau zwischen den Bäumen auftauchte. „Es ist klein“, sagte sie, „aber ich habe hier alles, was ich brauche.“
Sie lud Karin ein, einzutreten. Kaum hatte Karin die Schwelle überschritten, überkam sie ein Gefühl von Wärme und Ankommen. Die Frau entzündete ein Feuer im Ofen. Es knisterte leise, und bald erfüllte wohlige Wärme den Raum. Sie bereitete einen Tee aus Waldkräutern zu.
„Die Natur schenkt mir alles“, sagte sie. „Ich muss nur danach greifen.“
Die beiden Frauen saßen lange am Tisch und erzählten von ihrem Leben. Karin erfuhr schließlich auch den Namen der Frau: Manuela. Sie war anders – still, klar, beinahe zeitlos, als hätte sie sich dem Wald angepasst.
Draußen senkte sich bereits die Dämmerung. Karin erhob sich. „Ich muss jetzt gehen, sonst finde ich den Weg nicht mehr.“
Da sagte Manuela plötzlich: „Wenn du einen Wunsch frei hättest – was würdest du dir wünschen?“
Noch vor einem Tag hätte Karin sofort geantwortet. Doch jetzt zögerte sie. „Nur einen Wunsch?“, fragte sie leise. „Darf ich mir das überlegen? Ich möchte mit diesem Geschenk nicht leichtsinnig umgehen.“ Manuela nickte. „Komm morgen wieder“, sagte sie leise.
Karin machte sich auf den Heimweg. Erstaunt stellte sie fest, dass der Weg plötzlich klar vor ihr lag, als hätte er nur auf sie gewartet.
In dieser Nacht konnte Karin lange nicht schlafen. Sie dachte nach. Wollte sie ihren Mann zurück? Die Vergangenheit? Oder einfach nicht mehr allein sein?
Am Morgen wusste sie es.
Sie ging wieder in den Wald, fand Manuela und sah sie an. „Ich weiß, was ich mir wünsche“, sagte sie ruhig. „Ich wünsche mir nicht, dass alles wieder so wird wie früher. Ich wünsche mir die Kraft, das Leben anzunehmen, wie es ist – und den Mut, wieder glücklich zu sein.“
Manuela lächelte. In diesem Lächeln lag etwas Sanftes, wissendes. „Dann hast du dir den richtigen Wunsch gewählt“, sagte sie.
Als Karin wieder aufsah, war Manuela verschwunden. Das kleine Häuschen stand still zwischen den Bäumen, die Tür offen, der Ofen kalt – als hätte dort seit langer Zeit niemand gelebt. Nur zwei leere Tassen standen auf dem kleinen Tisch und daneben lag ein Sträußchen aus Waldkräuter, unscheinbar und doch voller Bedeutung. Karin nahm es in die Hand, schloss für einen Augenblick die Augen und atmete tief ihren Duft ein. Plötzlich wusste sie, nun wird alles gut und so ging sie mit einem Lächeln auf den Lippen zufrieden nach Hause.
Sie war noch immer allein. Doch sie fühlte sich nicht mehr verloren. Etwas in ihr war berührt worden – als hätte ihr jemand für einen Moment den Schleier von ihrer Seele gezogen.
Und zum ersten Mal seit langer Zeit freute sie sich auf den kommenden Tag.





